In einem kleinen Raum lagern vier Jahrzehnte gedruckte Erfahrungen: das Archiv der südostasien im Asienhaus in Köln. © Stiftung Asienhaus
In einem kleinen Raum lagern vier Jahrzehnte gedruckte Erfahrungen: das Archiv der südostasien im Asienhaus in Köln. © Stiftung Asienhaus
Südostasien/Deutschland: Was geschrieben ist, bleibt. Nina Dederichs und Marlene Weck betrachten den immensen Schatz im Archiv der südostasien.
97 Stufen, 98, 99. Geschafft. Mit keuchenden Atemzügen schaust du von den gefliesten Treppenstufen nach oben. Vor dir eine weiße, unscheinbare Tür. Du drückst sie auf, stehst in einem einladenden Besprechungsraum und schaust geradeaus auf eine zweite Tür. Klick. Du drückst den Lichtschalter nach unten und schaust in einen drei Quadratmeter großen Raum. Deckenhohe Regale an beiden Seiten. Viel Sauerstoff gibt es hier nicht. Kein Wunder, denn hier lagern Gedanken der letzten 40 Jahre. Du befindest dich im physischen Archiv der südostasien, einem Ort des Erinnerns. Zwei Schritte vorwärts, der Blick nach links und du stehst vor den gesammelten Printausgaben der Jahre 1984 bis 2018. Was sich in ihnen wohl alles verbirgt?
Mit einem Finger streifst du entlang der Zeitschriftenrücken: 2014, 2003, 1995 und dann: 1984. Nein, hier liegt keine Ausgabe von George Orwells Klassiker. Stattdessen ziehst du die allererste Ausgabe der Südostasien Informationen [Vorgänger der südostasien, d.R.] aus dem Regal. Du betrachtest die abgebildete Lupe, in der sich eine Weltkugel mit Asien im Zentrum befindet, und streichst den imaginären Staub von der Zeitschrift. Was den Menschen damals wohl durch den Kopf gegangen ist?
Seit die südostasien online erscheint, braucht es keine weiteren Regale mehr im Archiv. © Stiftung Asienhaus
Neugierig liest du die ersten Seiten: „Wir hoffen, die ‚Südostasien Informationen‘ ab Ende dieses Jahres/ Anfang nächsten Jahres regelmäßig herausgeben zu können, um damit eine kontinuierliche Informations-Basis über SOA zu schaffen, die es interessierten Einzelpersonen und Gruppen ermöglicht, sich mit den Ländern dieser Region zu beschäftigen und auseinanderzusetzen.“ So beendet Peter Franke als damaliges Redaktionsmitglied das Editorial dieser ersten Ausgabe. Wer hätte damals gedacht, dass diese erste Ausgabe der Beginn für eine Zeitschrift sein würde, die nun ihr 40-jähriges Jubiläum feiert? Und wer hätte geahnt, dass ihr Anliegen Jahrzehnte später erneut aufgegriffen wird – digital, um uns die ersten Schritte der südostasien zurück in unser Gedächtnis zu rufen. Aber WER sind WIR? Und WAS ist UNSER Gedächtnis?
Insbesondere Soziolog:innen und Kulturwissenschaftler:innen haben sich mit dem Gedächtnis von Gemeinschaften und Kulturen und mit Fragen nach Erinnern und Vergessen auseinandergesetzt. Der Soziologe Maurice Halbwachs, Begründer der kollektiven Psychologie, entwickelte die Idee des kollektiven Gedächtnisses, auf dessen Grundlage die heutige Erinnerungsforschung basiert. Halbwachs zufolge sind individuelle Erinnerungen einzelner Personen immer nur kurzlebig und ein Puzzleteil eines größeren dauerhaften Gedächtnisses einer Gemeinschaft. Unser Wissen, unsere Erinnerungen und unsere Identität formen sich demnach erst durch unser soziales Bewusstsein innerhalb eines Kollektivs. Indem wir Erzählungen, Praktiken oder Traditionen mit anderen Personen teilen, entstehen gemeinsame Erinnerungen, die in einer sozialen Gruppe zu einem kollektiven Gedächtnis heranwachsen können.
Jan und Aleida Assmann führten den Gedanken des kollektiven Gedächtnisses weiter und schlugen eine Differenzierung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis vor. Während das kommunikative Gedächtnis über etwa drei Generationen auf informellen Wegen weitergetragen werden kann, kann ein kulturelles Gedächtnis insbesondere mithilfe von Institutionen, Traditionen und Medien sowie Orten, Ritualen oder Büchern quasi unendlich weiter existieren.
Auch die südostasien kann als Medium eines kollektiven Erinnerungsprozesses verstanden werden. Über die letzten vier Jahrzehnte hat sie ökonomische, ökologische und soziale Entwicklungen in Bezug auf Südostasien beobachtet und an eine deutschsprachige Leser:innenschaft vermittelt. Als Zeitschrift werden Erinnerungen hier nicht nur in ein kommunikatives, sondern auch in ein kulturelles Gedächtnis eingeschrieben. Die Digitalisierung der Zeitschrift im Online-Archiv trägt dazu bei, indem sie den Zugriff auf alle Ausgaben der südostasien für zukünftige Generationen zugänglich macht.
Erinnern ist immer auch selektiv und wandelbar. Was erinnert wird, hängt von gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten ab und ist oft Gegenstand von Aushandlungsprozessen – sowohl innerhalb als auch zwischen Gemeinschaften. Was einmal wichtig erschien, kann später neu bewertet oder verdrängt werden. So auch bei der südostasien.
Zum einen hat sich der Blick nach ‚Außen‘ gewandelt: Die thematischen Schwerpunkte der Zeitschrift waren immer eng mit gesamtgesellschaftlichen Diskussionen verknüpft. Zum anderen haben sich Selbstverständnis sowie konzeptionelle Vorstellungen der südostasien verändert damit die Frage, wie und aus welcher Perspektive gearbeitet und schließlich auch erinnert werden soll. „Früher war die Arbeit für mich klarer. Wir haben uns für den Schutz von Aktivist:innen eingesetzt, Statements veröffentlicht und gingen gegen die Regime Südostasiens auf die Straße. Früher waren wir auf Demos, heute gehen wir mehr in den Diskurs“, erinnert sich Hendra Pasuhuk, langjähriges Redaktionsmitglied und als Autor bereits für die Südostasien-Informationen aktiv. „Wir werden alle älter; auch unsere Leser:innenschaft. Um weiter aktiv sein zu können, müssen wir jetzt neue Ziele definieren: Wen wollen wir mit unseren Texten erreichen? Und wie kann unsere Arbeit in fünf oder zehn Jahren aussehen?“
Das kollektive Gedächtnis der südostasien wurde über die Jahre nicht nur durch neues Wissen und aktuelle Themen geprägt, sondern vor allem auch durch die Menschen dahinter. Ideen, Beobachtungen und Perspektiven wurden genauso eingebracht wie persönliche Kontakte und Beziehungen. Die südostasien stellt zugleich einen Begegnungs- und Kommunikationsort für Menschen dar, die sich in ihrem alltäglichen Leben durch räumliche Barrieren vermutlich nicht ‚einfach so‘ getroffen hätten. Da sind zum einen die wechselnde Autor:innen aus Deutschland und Südostasien, die das Gedächtnis der Zeitschrift mit vielschichtigen und reflektierten Artikeln füllen und gefüllt haben. Da sind die zahlreichen Redaktionsmitglieder, von denen einige die südostasien über viele Jahre hinweg mit ihren individuellen Perspektiven bereichert haben. Und da ist auch die Leser:innenschaft, die das Gedächtnis seit 40 Jahren durch kritische Anmerkungen, durch Leser:innenbriefe und aktiven Austausch lebendig hält.
Redaktionsmitglieder der südostasien demonstrieren 1998 in Köln gegen deutsche Waffengeschäfte mit der Suharto-Diktatur. © Hendra Pasuhuk
Die Diskussionen, die innerhalb der südostasien geführt werden – über Themen, Perspektiven und Darstellungsweisen – zeugen von den vielfältigen, manchmal divergierenden Interessen, die die Zeitschrift prägen. Zum 10-jährigen Jubiläum stellt die Redaktion transparent dar, dass es nicht der Anspruch der Zeitschrift sei, „(vermeintlich) ’neutral‘ und ‚wertfrei‘ über kulturelle Verhältnisse Südostasiens“ zu berichten, sondern dass sie sich eine „grundsätzlichen Parteilichkeit zu Gunsten von emanzipativen Kräften und Bewegungen“ herausnimmt.
Erinnerung ist selektiv – und das bedeutet, dass manches nicht erinnert wird. Personen, Ereignisse und Perspektiven, die nicht ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben werden, geraten in Vergessenheit. Dies kann auch absichtlich geschehen, wenn Staaten beispielsweise Erinnerung politisch instrumentalisieren und widerständige Geschichten unterdrücken.
Um politischen Unterdrückungsinstrumenten zu begegnen, versucht die südostasien ein Ort für Gegen-Geschichten zu sein – eine Plattform, auf der unterdrückte Stimmen Gehör finden und sichtbar werden. Postkoloniale Strukturen, sprachliche Barrieren und mangelnde Aufmerksamkeit gegenüber komplexen Machthierarchien führen jedoch dazu, dass die Vielzahl marginalisierter Lebensrealitäten nicht angemessen berücksichtigt wurde und wird.
Immer wieder versucht sich die wandelnde Redaktion jedoch mit den eigenen blinden Flecken auseinanderzusetzen. Die (unbeabsichtigte) Reproduktion diskriminierender Denk- und Sprachmuster wird fortgesetzt zwischen den Redaktionsmitgliedern verhandelt. „Wir haben zweimal im Jahr persönliche Treffen und es gibt einen regen Austausch innerhalb der Teams, die die einzelnen Ausgaben gestalten. Bei diesem Austausch passiert sehr viel an Lernprozessen in Bezug auf koloniale Denk- und Sprachmuster“, schildert Redakteurin Anett Keller ihre Erfahrungen. „Plakativ gesagt: da treffen junge Redakteur:innen mit migrantischem Hintergrund auf ‚altgediente Weiße‘, die durchaus viel Erfahrung in und mit Südostasien haben, die sich aber immer wieder auch ihre eigenen Privilegien bewusst machen dürfen“, so Keller weiter. Herkunft sei dabei aber nur eine Kategorie. „Intersektionalität ist das Stichwort. Ich kann mich an eine lebhafte Diskussion mit einem indonesischen Kollegen erinnern, dem ich erklärte, warum ich ein Wort aus einem Text gestrichen habe, welches Frauen diskriminiert. Er sagte, das sei nun mal so in Indonesien, so wäre nun mal die Bezeichnung. Ist das dann Kultur-unsensibel von mir? Oder darf ich als mit feministischen Bewegungen in Indonesien verbundene Frau fragen, wessen Kultur da von einem Mann verteidigt wird?“
Das kollektive Gedächtnis der südostasien wurde über die Jahre nicht nur durch neues Wissen und aktuelle Themen geprägt, sondern vor allem durch die Menschen dahinter. © südostasien
Viel Raum also für Aushandlungsprozesse und die Suche nach Antworten auf die Frage, wie sich die Zeitschrift zukünftig verändern kann (oder muss), um ein sicherer Ort für Menschen mit unsicheren Lebensrealitäten zu werden und dem eigenen Anspruch nach sozialer Bewegung gerecht zu werden.
Um Erinnerungen lebendig zu halten, müssen sie wiederholt, reaktiviert, re-inszeniert, umgedeutet und erneuert werden. Dabei nehmen Jubiläen eine wichtige Rolle ein. Doch es ist keine leichte Aufgabe, zu entscheiden, woran nach 40 Jahren südostasien erinnert werden soll. Welche Menschen sollen zu Wort kommen, welche Themen, Konflikte, welcher Wandel aufgearbeitet werden? Woran wollen wir uns erinnern, woran müssen wir uns erinnern, auch wenn es schmerzhaft ist, um aus Vergangenem zu lernen und was vergessen wir dabei?
Die ehemaligen und zukünftigen Autor:innen und Redaktionsmitglieder ebenso wie die Leser:innenschaft – sie alle gestalten das gemeinsame und kollektive Gedächtnis dieser Zeitschrift. In einem Interview sagte Aleida Assmann 2021: „Kein Mensch lebt im Augenblick. Aus physikalischer Sicht betrachtet ist Gegenwart nur der Augenblick des Umschlagens von Zukunft in Vergangenheit“. Wir entscheiden darüber, was wir heute aus der Vergangenheit festschreiben, um es in die Zukunft und in ein kulturelles Gedächtnis mitzunehmen. Es ist wichtig, sich der damit einhergehenden Verantwortung immer wieder bewusst zu werden und darüber nachzudenken, welche gesammelten Gedanken und Beobachtungen wir in der Zukunft aus Archiven hervorholen wollen.
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