Indigene im Süden der Philippinen erleben das herrschende Entwicklungskonzept als Bruch ihrer Rechte und als existentielle Bedrohung. Sie halten diesem Konzept ihre eigenen Vorstellungen einer ganzheitlichen Entwicklung entgegen.
Kristallklares Wasser, Fischreichtum, genügend Wild in den Jagdgründen und viele Säcke Reis als Vorrat, den sein Großvater mit Nachbarn teilen konnte, wenn ihnen der Reis knapp wurde. So beschreibt Salem Demuna das Leben der Kagan, eines indigenen Volkes im Süden der Philippinen, vor einigen Jahrzehnten. Salem ist der ehemalige Vorsitzende der Learned Kagan Muslim Foundation Inc. (LKMFI), einer Organisation, die die Kultur der Kagan fördert und sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzt.
Heute ist der Fluss im Gebiet der Kagan durch Verschmutzung schlammig und kann der Gemeinschaft nicht mehr als Lebensgrundlage dienen. Die Bäume wurden für Bergbau, Großplantagen und Hotelanlagen am Strand abgeholzt, wodurch die Jagdgebiete geschrumpft sind. Den Kagan bleibt dadurch nur wenig Raum für traditionelle Landwirtschaft, Fischfang und Jagd. „Das ist sehr schmerzlich. Du bist in deiner Gemeinschaft, auf dem Land deiner Vorfahren, aber du verspürst einen Wettbewerb, eine Art Überlebenskampf“, sagt Salem.
Seit ihre Lebensgrundlage weg gebrochen ist, sind viele Kagan-Familien gezwungen, sich an die sozio-ökonomische Situation anzupassen. Sie schicken ihre Kinder zum Arbeiten ins Ausland, wo sie oftmals Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind. Die Geldüberweisungen dieser Overseas Filipino Workers (OFWs) werden von den Kagan verwendet, um ihre übrigen Kinder zur Schule zu schicken und sie auf die verbleibenden Einkommensmöglichkeiten in der Gemeinde vorzubereiten: Arbeit für die lokale Regierung oder eines der privaten Unternehmen, die im Namen ‚wirtschaftlicher Entwicklung‘ auf dem Land ihrer Vorfahren tätig sind.
Der Schmerz, den Salem empfindet, wenn er über die verschlechterten Lebensbedingungen der Kagan trotz des ihnen von der Natur gebotenen Reichtums berichtet, ist spürbar. Es ist ein Kampf, den nicht nur die Kagan führen. Auch die indigenen Mansaka, Nachbarn der Kagan im Hochland, leiden unter Armut, obwohl sie buchstäblich auf Bergen von Gold sitzen – Gold, das von Großunternehmen in ihrem angestammten Gebiet abgebaut wird. Diese Bergbauaktivitäten beeinträchtigen nicht nur die Umwelt im Land der Mansaka, sondern auch die der Kagan-Gemeinden in den Küstengebieten: „Unser Anteil ist Abraum, Quecksilber und Chemikalien, die in unsere Flüsse und unsere angestammten Gewässer fließen.“, sagt Salem.
Die Kagan haben nicht nur den Fluss als Lebensgrundlage und Erholungsgebiet verloren, sondern sind durch die vom Bergbau beeinträchtigte Umwelt auch anfälliger für Naturkatastrophen: „Was wird passieren, wenn es in der Gemeinde zu Unglücken kommt und es keine Bäume mehr gibt, die uns vor Erdrutschen schützen? Was wird dann der nächsten Generation zustoßen?“, fragt Salem. In der Vergangenheit hatten Erdrutsche, die durch Stürme oder Überschwemmungen verursacht wurden, in den vom Bergbau betroffenen Gebieten bereits überproportionale Auswirkungen. Bei Erdrutschen 2012 nach dem Taifun Bopha kamen 651 Menschen in der Provinz Davao de Oro ums Leben, in der auch das angestammte Gebiet der Kagan liegt.
Neben der Umweltzerstörung haben die offiziell als Entwicklungsprojekte bezeichneten Maßnahmen auch nachteilige Auswirkungen auf die sozialen Strukturen der Kagan-Gemeinschaft. Da es kaum Alternativen gibt, sind die Kagan für ihren Lebensunterhalt von den Einkünften abhängig geworden, die ihnen private Unternehmen und lokale Politiker*innen bieten.
Nestor Adona, Mitglied des Kagan Ältestenrats in Pantukan und Freiwilliger bei LKMFI, erklärt, dass lokale Politiker*innen ihre persönlichen Interessen unter dem Deckmantel von Entwicklungsprioritäten durchsetzten. Diese politischen Machtkämpfe störten die sozialen Strukturen der Kagan-Gesellschaft zusätzlich zum Wettbewerb um Arbeitsplätze. Hotelanlagen, die zunehmend an der Küste gebaut würden, schafften zwar Einkommen und Arbeitsplätze, brächten aber auch Zäune mit sich, für die keine Erlaubnis der Indigenen eingeholt würde, und sie störten die kulturellen und religiösen Praktiken der Kagan.
Salem berichtet, dass Gemeindeanführer*innen die Betreiber der Anlagen wiederholt aufgefordert hätten, die Lautstärke ihrer Musik während der Gebetszeiten zu drosseln, aber ohne Erfolg. So genannte Entwicklungsprojekte beeinträchtigen also nicht nur das Land der Kagan und die Nutzung ihrer Ressourcen, sondern verletzen auch ihr Recht, ihre kulturellen und religiösen Traditionen zu praktizieren.
„Das gängige Konzept von Entwicklung wird von dominanten Akteur*innen formuliert, die die Menschen, denen sie ihre so genannten Entwicklungsprojekte widmen, nicht wirklich verstehen. Wir Indigene sind jedoch gezwungen, diese Projekte zu akzeptieren, weil sie uns zumindest einen kleinen Teil dessen geben, was wir anstreben.“ So fasst Nestor das Verhältnis zwischen der herrschenden Definition von Entwicklung und den Interessen und Bedürfnissen der Kagan zusammen. Nestor und Salem vertreten ein ganzheitliches Verständnis von Entwicklung. Ihrer Erfahrung nach definieren externe Akteure jedoch Entwicklung in der Regel als physische Projekte mit sichtbarer Wirkung.
Entwicklung solle etwas sein, so Nestor, das im Innern spürbar ist, das „allen Bedürfnissen der Kagan und ihrer Nachbarn entspricht“ und das „sowohl in der Politik und den staatlichen Gesetzen als auch in der Tradition und Kultur der Kagan verankert ist“. Ein solches Entwicklungskonzept würde nicht nur die Schaffung von Infrastruktur und wirtschaftlichen Möglichkeiten berücksichtigen, sondern auch das soziale und kulturelle Wohlergehen aller im Gebiet lebenden Menschen. Nestor drückt es so aus: „Es hat faire Auswirkungen für alle und beeinträchtigt von niemandem die Rechte, Lebensräume und Gebiete“.
Salem erklärt, dass „das traditionelle Entwicklungskonzept der Kagan die Einheit der Gemeinschaft, Frieden, Harmonie und die gemeinsame Nutzung der Ressourcen ist“. Entwicklung so zu verstehen bedeutet, dass der Schwerpunkt auf zwischenmenschliche Beziehungen gelegt wird und nicht auf wirtschaftliche Aktivitäten oder irgendeine Form von ‚Fortschritt‘. Es bedeutet, dass Entwicklung auch schon vor der Ankunft des Islam, der spanischen und US-amerikanischen Kolonialregierung oder den Projekten von Investor*innen stattfand.
Im Entwicklungsverständnis der Kagan sind Indikatoren für Entwicklung: das Teilen von Ressourcen mit Nachbarn, die freie Ausübung der Kagan- Kultur und der Respekt vor Älteren. Salem räumt ein, dass es früher auch Konflikte gab, meint aber, dass diese leichter zu bewältigen gewesen seien, weil Ressourcen von allen geteilt und ausgetauscht wurden: „Ich kann nicht für unsere Vorfahren sprechen, aber ich glaube, es waren glückliche Zeiten“.
Ihrer eigenen Definition von Entwicklung nachzugehen, ist eines der Rechte, die den Indigenen in den Philippinen innerhalb ihrer anerkannten Gebiete garantiert werden. Durch die Unterstützung von LKMFI konnten die Kagan 2019 ihr Gebiet registrieren lassen. Das bedeutet, dass sie nicht nur ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung innerhalb dieses Gebiets frei gestalten können, sondern dass sie auch an der Formulierung von Strategien und Plänen für sie direkt betreffende Entwicklungsprojekte zu beteiligen sind.
Eine der Möglichkeiten, dies zu gewährleisten, ist die Ausarbeitung eines sogenannten Plans zur nachhaltigen Entwicklung und zum Schutz des angestammten Gebiets (ancestral domain sustainable development and protection plan). Die Kagan sind derzeit dabei, einen solchen Plan zu erstellen und ihn „auf die Bedürfnisse, Bestrebungen, Ressourcen, Geschichte, Kultur und Tradition der Kagan zuzuschneiden“, wie Nestor erklärt.
Eine ständige Einschränkung bei der Formulierung von Plänen, die mit den Traditionen der Kagan in Einklang stehen, sind die lokalen Gesetze: „Man kann nicht völlig glücklich und zufrieden sein, wenn man sagt, dass wir alle unsere Rechte frei ausüben können, und uns dennoch die Hände durch Gesetze und Einschränkungen gebunden sind“. Statt vollständige Selbstverwaltung und Freiheit bei der Festlegung ihrer Entwicklungsprioritäten zu genießen, sehen sich die Kagan immer noch mit der Realität so genannter Entwicklungsprojekte konfrontiert, die sich bereits auf ihr angestammtes Gebiet auswirken und oft von der lokalen Regierung nicht nur zugelassen, sondern sogar gefördert werden. Die Herausforderung für die Kagan besteht also nicht nur darin, Entwicklungspläne zu formulieren, sondern vor allem darin, diese Pläne umzusetzen und auf diese Weise ihre Rechte durchzusetzen.
Viele Mitglieder der Kagan haben jedoch Angst, ihre Beschwerden öffentlich zu äußern. Sich gegen die Praktiken von Großunternehmen auszusprechen, hat in der Vergangenheit zu gewaltsamen Reaktionen bis hin zur Ermordung von Aktivist*innen geführt. Ein weniger gefährlicher Weg sind Dialoge, wie sie LKMFI betreibt. Salem betont jedoch, dass diese ohne die Anwesenheit externer Beobachter*innen nicht immer effektiv sind.
Salem und Nestor sind sich darüber im Klaren, was nötig ist, damit das Recht der Indigenen, ihr eigenes Entwicklungsverständnis umzusetzen, eingehalten wird: ein größeres Bewusstsein der Kagan selbst für ihre Rechte, eine Bestandsaufnahme ihrer kollektiven Ressourcen und die Festlegung konkreter Handlungsmöglichkeiten, um ihre Rechte friedlich einzufordern. Um dies zu erreichen, arbeiten sie mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen zusammen, die diese Vorstellung teilen. Dazu gehört das forumZFD, eine internationale Friedensorganisation, die mit LKMFI zusammenarbeitet, um indigene Methoden der gewaltfreien Konfliktbearbeitung zu stärken und zu ergänzen – insbesondere bei Konflikten mit externen Akteur*innen.
Nestor erläutert, dass das Durchsetzen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung innerhalb des Gebiets der Kagan „ein langer und schmerzhafter Kampf ist, der immer noch andauert und noch lange nicht zu Ende ist“. LKMFI werde gemeinsam mit anderen nach Wegen suchen, um die Werte der Kagan zu stärken, mit anderen in Harmonie zu leben und ihre Ressourcen zu teilen. Dies erfordert nicht nur die Weitergabe von kulturellen Werten und traditionellem Wissen an die nächste Generation. Es ist auch notwendig, den gegenwärtigen Zustand eines Überlebenskampfes zu überwinden und eine wirtschaftliche und sozio-politische Situation zu schaffen, die die Verwirklichung ihrer Vision von Entwicklung als Gemeinschaft erst ermöglicht.
Übersetzung aus dem Englischen von: Jörg Schwieger
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