Was passiert, wenn Menschen erzwungen / freiwillig ihre Heimat verlassen und in der oftmals weit entfernten neuen Heimat mit Menschen gleicher Wurzeln eine Gemeinschaft bilden? Wie gestaltet sich das Leben für sie in den sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften und wie pflegen sie ihre Wurzeln?
Diaspora – ursprünglich eine Bezeichnung für jüdische Gemeinschaften in anderen Ländern, gewinnt in Zeiten von weltumspannenden Lebensrealitäten an Bedeutung. Auch für die Länder Südostasiens spielen Diasporagruppen sowohl im In- als auch im Ausland eine große Rolle. In Südostasien sind die finanziellen Rücküberweisungen (remittances) mehr als doppelt so hoch wie die offiziellen Entwicklungsgelder des Globalen Nordens (World Economy). Die Devisen prägen das Herkunftsland, unterstützen Familienangehörige und kurbeln die lokale Wirtschaft an. Allerdings schaffen Devisen auch Abhängigkeiten.
Diasporagemeinschaften sind Anlaufstelle für neu zugezogene Menschen und helfen durch bereits geknüpfte Netzwerkstrukturen. Verschiedene Gemeinschaften aus südostasiatischen Ländern finden sich in nahezu jeder Region der Welt. Temporäre Arbeitsmigrant*innen und permanente Migrant*innen werden gleichermaßen in die Diasporagemeinschaft integriert. Ob Bangkok, Berlin, Dubai, Kapstadt, New York, Mexiko-Stadt oder Sydney: Der Einfluss von Südostasiat*innen wächst nicht nur mit ihrer Zahl, sondern vor allem mit ihrer Organisierung und Teilhabe an gesellschaftlichen Strukturen. Auch innerhalb Südostasiens finden sich Diasporagemeinschaften aus der ganzen Welt zusammen.
Diesen Netzwerken und ihren Hintergründen widmen wir uns mit der vierten und letzten Ausgabe der südostasien im Jahr 2020. Einem Jahr, in dem Gemeinschaften durch die globale COVID-19 Krise für viele Belange noch einmal wichtiger geworden und enger zusammengerückt sind. Diese gewachsenen Strukturen werden in den folgenden drei Monaten in unserer Ausgabe näher beleuchtet. Dabei möchten wir sowohl ein Augenmerk auf politische als auch auf kulturelle sowie sozialintegrative Aspekte von Diasporastrukturen legen.
Teil einer Diasporagemeinschaft zu sein, bedeutet oft auch Selbsthilfe untereinander, um in der neuen Umgebung anzukommen. Infolgedessen bilden sich häufig tiefer gehende Strukturen, welche auch ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Einfluss auf die Heimat nehmen. Gleichzeitig wird versucht, Diaspora-Communities zu instrumentalisieren, wie die Präsidentschaftswahlen in den Philippinen im Jahr 2016 zeigten. Beispiel Thailand: Die fortlaufenden Jugendproteste gegen die Regierung und für einen demokratischen Wandel werden auch von im Ausland lebenden Thailänder*innen weitergetragen und erfahren somit international Unterstützung.
Eine weitere Herausforderung, die sich aus der weltumspannenden Migration ergibt, ist das Fehlen der in der Diaspora lebenden Menschen auf den Arbeitsmärkten Südostasiens, beispielsweise im Gesundheitssektor. Die massenhafte Auswanderung von Fachkräften (Brain Drain) ist mittlerweile für viele Herkunftsländer zum Problem geworden. Arbeitsmigrant*innen wirken dem teilweise entgegen, indem sie im Ausland erworbene Fähigkeiten und Kenntnisse bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland mitbringen (Brain Gain und Brain Circulation).
Trotz oder gerade wegen dieser Erfahrungen gewinnen Diasporagemeinschaften an Einfluss. Projekte der Entwicklungszusammenarbeit adressieren mittlerweile Diasporagruppen und schätzen deren Expertise in kulturellen und politischen Fragen. Darüber hinaus werden Posten in der Lokalpolitik oder Sozialarbeit häufiger mit Menschen aus der Diaspora besetzt, da diese am besten die Perspektive ihrer jeweiligen Gemeinschaft einnehmen können. Dieser Form von Empowerment möchte unsere Ausgabe Ausdruck verleihen, indem sie diverse Stimmen der Diaspora versammelt und unseren Leser*innen näherbringt.
Im Interview mit drei Filipin@s der ersten und zweiten Generation in Österreich nimmt uns Jörg Schwieger mit in ein spannendes Projekt, bei dem es um die eigene Identität innerhalb der Diaspora und in der philippinischen Heimat geht. Unser Redaktionsmitglied Stefanie Zinn interviewte die vietdeutsche Podcasterin Minh Thu Tran zu ihren Vorbildern, ihrer vietdeutschen Community und anti-asiatischem Rassismus in Deutschland. Mit Andi Pratiwi sind wir zu Besuch beim indonesischen Seemansclub in Hamburg. Joan Chun hat für uns Parallelen zwischen anti-asiatischem und anti-Schwarzem Rassismus während der COVID-19 Pandemie in den USA analysiert und berichtet anhand der Cambodian American Literary Arts Association, wie Solidarität zwischen verschiedenen Diaspora-Gemeinschaften aussehen kann. Anas Ansar und Abdu Faisal Md. Khaled machen uns mit der aktiven Rolle von Frauen als transnationale Aktivist*innen in der weltweiten Rohingya-Diaspora bekannt.
Viele Artikel in dieser Ausgabe verdeutlichen, dass in der Diaspora zu leben auch immer bedeutet, Teil einer Minderheit innerhalb der dortigen Mehrheitsgesellschaft zu sein. Dies geht oft mit rassistischen Anfeindungen und Diskriminierungserfahrungen einher. Zu Anfang der COVID-19- Pandemie berichteten viele Menschen aus asiatischen Diasporagruppen darüber, wie sie in ihren europäischen Heimatländern offen angefeindet und mit dem Virus in Verbindung gebracht wurden. Diaspora hat hier auch die Funktion eines geschützten Raums, innerhalb dessen sich Betroffene geborgen fühlen und ihre Erfahrungen teilen können. Diesen und zahlreichen weiteren Facetten der Corona-Krise wird sich übrigens die nächste Ausgabe der südostasien widmen (zum Call for Paper Ausgabe 1/2021), für die noch Beiträge eingesendet werden können.
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen unserer Ausgabe 4/2020.
Das Redaktionsteam
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