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Editorial südostasien 1/2019: Arbeiter*innenbewegung(en) neu entdecken
Eine vor kurzem veröffentlichte Studie des Asia Monitor Resource Centre (2017) nannte Asien den „Kontinent der Arbeit“ – eine Charakterisierung, die insbesondere auch auf Südostasien zutrifft. Die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung der Region beruht auf der Expansion der Kapitalbeziehungen und der fortdauernden Proletarisierung ihrer Bevölkerung. Allerdings bleibt die „Arbeiter*innen-Seite“ des „Wirtschaftswunders“ in Südostasien gewöhnlich verborgen. Abgesehen von der gelegentlichen Erwähnung größerer Streikbewegungen wird die Arbeiter*innenschaft als Klasse und kollektiver Akteur in politischen Analysen der Region nicht berücksichtigt. Dies trifft auch auf politische Aktivist*innen und eine Zivilgesellschaft zu, die seit einigen Jahrzehnten „Klasse“ als analytische Kategorie und kollektive Kämpfe der arbeitenden Klasse als strategisches Element heruntergespielt haben.
Diese Ausgabe der südostasien soll dazu beitragen, diesen Zustand zu berichtigen; einerseits durch die Darstellung von Lebenswirklichkeiten und Kämpfen der arbeitenden Klasse, andererseits durch die Betonung ihrer Bedeutung für den sozialen und politischen Wandel in Südostasien. Wir verstehen dabei die arbeitende Klasse und die Arbeiter*innenbewegung in breitem Sinn, d.h. als Lohnarbeitende in der Industrie, im Dienstleistungsbereich und in der Landwirtschaft. Es geht also um Arbeiter*innen und Angestellte in formaler wie informeller Beschäftigung und um ihre tagtäglichen („unorganisierten“) Kämpfe, die Gewerkschaftsbewegung sowie damit verbundene zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Parteien.
Südostasien liegt bekanntlich zwischen China und Indien und diese geographische Lage hat auch die kulturelle, politische und wirtschaftliche Geschichte der Region geprägt. Auch mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen von Arbeiter*innenbewegungen liegt Südostasien zwischen den beiden Giganten. In Indien ist eine legale Organisierung in Gewerkschaften und Parteien weitgehend möglich. Gleichzeitig sind sehr viele Arbeiter*innen im riesigen informellen Sektor beschäftigt. Trotzdem fanden hier 2018 und 2019 die größten Generalstreiks der Geschichte gegen die repressive Arbeitsmarktpolitik der Modi-Regierung statt. In China hingegen gibt es kaum eine Möglichkeit, neben den offiziellen Staatsgewerkschaften offen zu organisieren. So verlagern sich Proteste in den Untergrund, u.a. in Wellen von wilden Streiks, an denen sich in den letzten Jahren Millionen von Arbeiter*innen – häufig auch Binnenmigrant*innen – beteiligt haben.
Auch Südostasien hat in den letzten Jahren große Streikbewegungen gesehen: der Streik der Textilarbeiterinnen 2013/14 in Kambodscha, die militanten Generalstreiks 2011 und 2013 in der Industrieregion JABOTABEK in Indonesien, oder die Welle von wilden Streiks 2006-2011 in Vietnam. Auch in Südostasien müssen sich Arbeiter*innenbewegungen den Herausforderungen des informellen Sektors und der prekären Beschäftigung stellen. Auch hier stellen die besonderen Schwierigkeiten, denen Migrant*innen ausgesetzt sind, Gewerkschaften vor neue Probleme. Und auch hier – in Südostasien – ist die Organisierung im Untergrund oftmals die einzige Möglichkeit, auf zunehmende Repression zu antworten.
Ein Rätsel und auch eine große Schwäche über die ganze Region hinweg ist das Fehlen einer politischen Formierung der Arbeiter*innenbewegung über ökonomische Forderungen und gewerkschaftliche oder ähnliche Organisationsformen hinaus. Dies kontrastiert deutlich mit der Geschichte der anti-kolonialen Bewegungen, bei der die Arbeiter*innenbewegung oft eine wichtige Rolle spielte. Dies drückte sich u.a. in der Entstehung politisch einflussreicher, kommunistischer Parteien aus. Es änderte sich spätestens in der post-kolonialen Phase, als neue Eliten sich daran machten, starke Nationalstaaten zu bilden. Entweder wurden die kommunistischen Parteien unterdrückt/physisch ausgelöscht wie in Indonesien, Malaysia oder Thailand. Oder sie wandelten sich in nationalistisch-kapitalistische Parteien um, die ihre eigene arbeitende Klasse ausbeuteten und unterdrückten wie in Kambodscha und Vietnam – von Sonderentwicklungen wie in den Philippinen abgesehen. Von diesen Niederlagen haben sich die Arbeiter*innenbewegungen vor allem politisch noch immer nicht erholt.
Spätestens in den großen Demokratiebewegungen Ende des letzten Jahrhunderts gingen wieder Hunderttausende von Arbeiter*innen auf die Straße und konnten Diktaturen stürzen und neue Freiheiten in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Organisierung erkämpfen. Doch sind daraus keine starken neuen politischen Organisationen entstanden, sondern allenfalls erste Ansätze dazu. Stattdessen wird die politische Arena nach wie vor von Parteien dominiert, die den Staatseliten, Konglomeraten oder einflussreichen Familienclans gehören. Führende Labour-Aktivist*innen verbünden sich dann oftmals mit der einen oder anderen Fraktion dieser Eliten – oft mit neuen autoritären Führern wie Duterte in den Philippinen, den Monarchisten in Thailand oder Prabowo in Indonesien – mit verheerenden Konsequenzen.
Was in dieser Ausgabe der südostasien aber auch deutlich wird, ist die Vielzahl und Vielfalt der Kämpfe von Arbeiter*innen in der ganzen Region. Allein die große Anzahl von Artikeln und Autor*innen – darunter auch viele Labour-Aktivist*innen aus Südostasien – ist ein Indiz für die Allgegenwärtigkeit von Kämpfen der arbeitenden Klasse. Diese Kämpfe sind widersprüchlich und müssen sich mit Prekarisierung, Repression und politischer Strategie auseinandersetzen. Das Proletariat marschiert nicht einfach von Sieg zu Sieg. Aber es entsteht eine Art „neue Klassenpolitik“ und in diesen vielen alltäglichen Auseinandersetzungen und durch viele – kleine und große – Erfolge sowie Niederlagen wachsen neue Arbeiter*innenbewegungen in der Region heran. Watch this space!
Wir danken allen an dieser Ausgabe Beteiligten sehr herzlich! Auch für die kommende Ausgabe zum Thema Plastik & Plastikmüll freuen wir uns über Artikelvorschläge. Hier geht´s zum call for paper (Download: deutsch/englisch/indonesisch).
Oliver Pye, Nantawat Chatuthai, Michaela Doutch, Andrea Höing, Fahmi Panimbang und Jörg Schwieger.
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