2 | 2022, Interviews, Thailand,
Autor*in:

Digitale Redefreiheit unter Beschuss

Thailand, digitale Rechte, Aktivismus

Demokratischer Aktivismus ist in Thailand auf der Straße wie auch digital, mit großen persönlichen Risiken verbunden. © Manushya Foundation

Thailand: Online-Demokratie und digitale Rechte werden unter der Prayuth-Regierung massiv angegriffen. Verleumdungs- und Cybergesetze werden als Waffen eingesetzt, um gegen Aktivist*innen und Andersdenkende vorzugehen und sie zum Schweigen zu bringen.

südostasien: Wie sehen derzeit die Einschränkungen von digitalen Rechten in Thailand aus?

Die Konturen der strafrechtlichen Verleumdung in Thailand sind einzigartig. Die Paragraphen 326 bis 333 des Strafgesetzbuches regeln die strafrechtliche Verleumdung im herkömmlichen Sinne, die jede potenzielle Rufschädigende Behauptung über Dritte umfasst. Besorgniserregend ist Abschnitt 112 des Strafgesetzbuchs, in dem der thailändische Straftatbestand der “königlichen Verleumdung” oder des “lèse-majesté” verankert ist. Unter diesen Straftatbestand fällt jede Verleumdung des Königs, der Königin oder ihrer Thronfolger*innen. Diese Bestimmungen wurden in einer Vielzahl von Fällen herangezogen, um Internetnutzer*innen, Politiker*innen oder Journalist*innen und Aktivist*innen zu verfolgen. 225 Fälle, die auf der Grundlage von Abschnitt 112 eingeleitet wurden, sind zwischen November 2020 und Juni 2022 dokumentiert worden. Davon standen 116 Fälle im Zusammenhang mit Online-Äußerungen.

Unsere Interviewpartnerinnen:

© Privat

Emilie Palamy Pradichit ist Gründerin und Geschäftsführerin der Manushya Foundation. Sie ist eine intersektionale Feministin und internationale Menschenrechtsanwältin, die sich darauf spezialisiert hat, marginalisierten Gemeinschaften zu ihrem Recht zu verhelfen.

© Privat

Als leidenschaftliche Verfechterin der Menschenrechte ist Letitia Visan Forscherin und Advocacy-Beauftragte bei der Manushya Foundation. Sie ist auf digitale Rechte und die Menschenrechtsüberwachungs-mechanismen der Vereinten Nationen spezialisiert und betreut diese Bereiche.

© Privat

Felicity Salina ist Human Rights Research & Advocacy Associate (Fellow) und trägt zu Manushyas laufender gemeinsamer Berichtsreihe über digitale Autoritarismus-Trends in Südostasien mit der ASEAN Coalition to #StopDigitalDictatorship bei.

Im September 2020 wurde ein Ausschuss eingesetzt, um Personen zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen, die in den sozialen Medien vermeintlich Desinformationen und Fehlinformationen über Premierminister Prayuth Chan-o-cha und seine Aufgaben verbreiten. Innerhalb von weniger als einem Jahr wurden nach Angaben des Ausschusses rund 100 Verfahren gegen Kritiker*innen des Premierministers eingeleitet. Soziale Medien, Streaming-Plattformen, Online-Nachrichten und sogar private Chatrooms können Materialien oder Informationen beinhalten, die als verleumderisch empfunden werden und zu einer willkürlichen Strafverfolgung führen können.

In Thailand haben SLAPP-Fälle (strategic lawsuit against public participation = Strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung) seit dem Staatsstreich von 2014 zugenommen. So hat zum Beispiel das thailändische Unternehmen Thammakaset Co. Ltd in den letzten vier Jahren Verleumdungsverfahren gegen fast 40 Personen eingeleitet. Unter diesen Personen sind drei Menschenrechtsverteidigerinnen, die wegen ihrer Twitter-Posts und Retweets verklagt wurden. In diesen unterstützten sie Personen, die in der Vergangenheit von Thammakaset verklagt wurden. Im kommenden November werden sie vor Gericht stehen. Auch gegen die Beraterin für Menschenrechtskampagnen der Manushya-Stiftung, Nada Chaiyajit, wurde eine SLAPP-Anklage erhoben, weil sie in ihren Facebook– und Twitter-Posts eine Transgender-Frau verteidigt hatte, die an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt wurde.

Auf welchen gesetzlichen und institutionellen Grundlagen basieren diese Fälle?

Thailand, digitale Rechte, Aktivismus

Das neue thailändische Parlamentsgebäude ist für viele Menschen kein Garant von freier Meinungsäußerung im Netz. © Manushya Foundation

Die vom Militär unterstützte thailändische Regierung setzt eine Reihe von Gesetzen ein, um gegen die Meinungsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre vorzugehen. Darunter fallen der Computer Crime Act (2017), der Cybersecurity Act (CCA, 2019) und der National Intelligence Act (2019). In den vergangenen Jahren hat die Regierung durch die Einrichtung von zwei ‘Fake-News-Zentren’ weitere Anstrengungen unternommen, um das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Privatsphäre zu beschneiden. Das erste wurde im November 2019 mit dem Ziel eingerichtet, vermeintliche Fake News zu überwachen und zu korrigieren, die sich direkt auf die Öffentlichkeit auswirken, Disharmonie in der Gesellschaft schaffen, Falschmeldungen oder falsche Mythen verbreiten oder das Image des Landes schädigen. In Anbetracht des Fehlens einer klaren Definition von ‘Fake News’ hat es den Anschein, dass das Zentrum in erster Linie eingerichtet wurde, um kritische Meinungsabweichungen zu bekämpfen. Aus den Daten des Fake-News-Zentrums geht hervor, dass die häufigsten Beschwerden, die es erhält, die Regierungspolitik betreffende Inhalte anprangern. Viele andere Beschwerden betreffen die allgemeine Regierungsführung, einschließlich Nachrichten über die Monarchie. Das zweite Zentrum wurde im Mai 2021 eingerichtet und hat den Auftrag, ‘falsche Online-Nachrichten’ über die COVID-19-Situation zu untersuchen. Durch die Sammlung von Daten aus den Ermittlungen ist das Zentrum befugt, Bürger*innen zu überwachen.

Im Zuge des politischen Aktivismus und der heftigen Kritik am Missmanagement der Regierung im Zusammenhang mit COVID-19 wurde der CCA vor allem dazu genutzt, die Zivilgesellschaft unverhältnismäßig einzuschränken und freie Online-Reden zu verfolgen. Ebenso problematisch ist das Cybersicherheitsgesetz, das die Möglichkeiten des Staates zur Online-Überwachung und Massenüberwachung stärkt. Es stattet die Behörden mit weit reichenden Befugnissen zur Überwachung von Online-Informationen und zur Durchsuchung und Beschlagnahme elektronischer Daten und Geräte aus, wenn die “nationale Sicherheit” gefährdet ist und um die “kritische Informationsinfrastruktur” des Landes zu schützen.

Wie wurde mit Online-Kritik an COVID-19-Maßnahmen umgegangen?

Thailand, digitale Rechte, Aktivismus

Kritische Stimmen müssen in Thailand damit rechnen, überwacht und abgehört zu werden. © Manushya Foundation

Zusätzlich zu den oben genannten Instrumenten griff die thailändische Regierung auf das Notstandsdekret über die öffentliche Verwaltung in Notsituationen von 2005 zurück, um die Verbreitung von Informationen während der Pandemie einzudämmen. Zusätzlich eingeführte Verordnungen, wie Verordnung Nr.29, erleichterten es der Regierung, die Freigabe, Verteilung oder Verbreitung von Materialien zu untersagen. Dies betrifft Materialien, die “Angst schüren”, darauf abzielen, Informationen zu verzerren oder das Verständnis der Notstandssituation “so weit zu verfälschen, dass die Sicherheit des Staates oder die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten der Bevölkerung beeinträchtigt werden”. Auf Druck von Medien und Menschenrechtsorganisationen erließ das thailändische Zivilgericht im August 2021 eine Verfügung, die es Premierminister Prayuth untersagte, die Verordnung Nr. 29 durchzusetzen.

Ein Beispiel für dieses ‘Wahrheitsmanagement’ ist die Einreichung der Verleumdungsklage des staatlichen Unternehmens Government Pharmaceutical Organization (GPO) gegen den pensionierten Professor Loy Chunpongthong. Chunpongthong hatte in einem YouTube-Video die erheblichen Preisaufschläge der GPO für importierten Moderna-Impfstoff kritisiert. Auf Anordnung der Nationalen Rundfunk- und Telekommunikationskommission kann Nutzer*innen auch der Internetzugang gesperrt werden. Internetdienste müssen den Anordnungen der Kommission Folge leisten, da ihnen sonst die Betriebsgenehmigung entzogen werden kann. Der Lizenzentzug wird neben der Androhung von Strafanzeigen auch häufig gegen Medienunternehmen verhängt.

Wie ist das Verhältnis zwischen der thailändischen Regierung und großen Technologieunternehmen?

Thailand, digitale Rechte, Aktivismus

Techkonzerne wie TikTok und Twitter sind oft Gegenstand staatlicher Zensur und setzen diese nicht selten durch. © Jeremy Bezanger on Unsplash

Sperren, Filtern und Entfernen von Inhalten stehen unter der strengen Kontrolle der Regierung. Anbieter oder Vermittler von Inhalten kommen häufig den Aufforderungen zur Entfernung nach, um eine strafrechtliche Haftung zu vermeiden. Infolgedessen wurde die Vielfalt online verfügbarer Meinungen eingeschränkt. In den letzten Jahren meldeten Technologieunternehmen wie Facebook (390 Anfragen im Jahr 2021), Google (sechs Anfragen im Jahr 2021), LINE (zwei Anfragen von 2020 bis 2021) und Twitter (58 Anfragen im Jahr 2021) zahlreiche staatliche Anfragen zum Zugriff auf Nutzer*innendaten.

Die thailändischen Behörden verpflichten die Technologieunternehmen, diese Daten zu speichern und/oder auszuhändigen oder die Protokolle des Internetverkehrs für bestimmte Zeiträume aufzubewahren. Folglich kann jeder Online-Austausch oder jede Veröffentlichung von Informationen auf Online-Plattformen Gegenstand staatlicher Überwachung sein. Das CCA und der National Intelligence Act verleihen der Regierung die Befugnis zur Durchführung dieser Maßnahmen. Plattformen wie Twitter und TikTok unterstützten die Regierung ebenfalls bei ihren Zensurbemühungen, mit einer Löschquote von 13,2 Prozent bzw. 20 Prozent im Jahr 2021. Allerdings sind die Tech-Unternehmen den Aufforderungen der Regierung nicht immer nachgekommen, was dazu führte, dass rechtliche Schritte gegen sie eingeleitet wurden. Im September 2020 klagte das Ministerium für digitale Wirtschaft und Gesellschaft gegen Facebook und Twitter, weil sie gerichtlichen Anordnungen zur Zensur von Online-Inhalten nicht nachgekommen waren.

Welche Auswirkungen haben künstliche Intelligenz und die Erfassung biometrischer Bilder?

Thailands will zum führenden KI-Akteur der Region aufsteigen, dies ist jedoch nicht mit einem festen Bekenntnis zu den Menschenrechten verbunden. Das Land verfügt nicht über die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, die zum Schutz der Privatsphäre und der Datensicherheit seiner Bürger erforderlich sind. Im Oktober 2019 wurde die malaiisch-muslimische Bevölkerung in den südlichsten Provinzen vom Internal Security Operations Command (ISOC) sowie von Telekommunikationsanbietern angewiesen, ihre SIM-Karten über ein mit biometrischer Gesichts-Scantechnologie ausgestattetes System neu zu registrieren. Im April 2020 wurden die Mobilfunknetze derjenigen Gemeindemitglieder abgeschaltet, die dieser neuen Vorschrift nicht nachgekommen waren.

Thailand, digitale Rechte, Aktivismus

Überwachungskameras und Gesichtserkennung werden in den von ethnischen Minderheiten bewohnten südlichen Provinzen Thailands eingesetzt. © What is Picture Perfect on Unsplash

Obwohl die Regierung behauptet, die Maßnahme diene der Aufstandsbekämpfung, hat sie angesichts der zunehmenden Konflikte und Sicherheitswarnungen in der Region zu einer weiteren Marginalisierung der lokalen Gemeinschaften geführt, die größtenteils aus ethnischen und religiösen Minderheitengruppen bestehen. Im Jahr 2020 wurden Berichten zufolge rund 8.200 Überwachungskameras in den südlichen Provinzen betrieben, unter dem Vorwand, “die Sicherheit der lokalen Bevölkerung zu gewährleisten” und das “Überwachungs- und Risikomeldesystem” der Behörden zu verbessern.

Welche Widerstandsformen setzt die Zivilgesellschaft gegen digitale Repressionen ein?

Zivilgesellschaftliche Akteure sind gezwungen, alternative Formen des Widerstands zu finden, unter anderem durch den Aufbau von Solidarität auf regionaler Ebene, die Bildung von Koalitionen und Solidarität mit den Opfern digitaler Unterdrückung. Ein Beispiel ist die ASEAN Regional Coalition to #StopDigitalDictatorship. In anderen Fällen haben sich zivilgesellschaftliche Gruppen an die internationale Gemeinschaft gewandt, um die thailändische Regierung aufzufordern, ihre Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten und demokratische Werte zu schützen. So protestierten im November 2021 als Reaktion auf das Urteil des Verfassungsgerichts, wonach die Forderung nach einer königlichen Reform ein Versuch ist, die Monarchie zu stürzen, Tausende von Menschen in Bangkok und forderten eine Reform der Monarchie. Drei Demonstrant*innen übergaben der Deutschen Botschaft einen Brief, der sich gegen die absolute Monarchie richtet.

Im farblichen Dreiklang der thailändischen Nationalflagge unter dem Motto Nation, Religion, King, steht die Farbe Rot für die thailändische Bevölkerung und das Land, während Weiß die Religionen und Blau die Monarchie abbilden sollen.

Junge Aktivist*innen greifen oft auf unkonventionelle Mittel zurück, um ihren Unmut zu äußern. Im März organisierte die 20-jährige Tantawan ‘Tawan’ Tuatulanon, die selbst wegen Verleumdung des Königshauses vor Gericht steht, einen friedlichen Protest in einem Pendlerzug in Bangkok. Dabei bot sie den Passagieren an, ein blaues (die Farbe der Anhänger*innen der königlichen Familie) oder ein rotes Band an ihre Handläufe oder Sitze zu binden, um ihre Meinung dazu anzugeben, ob Abschnitt 112 (zur königlichen Verleumdung) abgeschafft werden sollte. Alle Fahrgäste wählten rot und signalisierten damit ihre Zustimmung und Unterstützung für die Demokratiebewegung. Andere wehren sich durch künstlerische Darbietungen – sie malen sich rot an oder schaffen Kunstwerke, die den blauen Streifen aus der thailändischen Flagge entfernen, um ihren Wunsch nach Abschaffung der Monarchie zu verdeutlichen. Derartige Bewegungen gibt es in ganz Thailand, und sie dienen einem gemeinsamen Ziel: dem politischen Aufbruch im Land.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen von: Simon Kaack

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieser Text erscheint unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz