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„Die Zivilgesellschaft muss Aufklärungsarbeit leisten“
Malaysia: Korruptionsskandale und gesellschaftliche Umbrüche haben das politische System massiv transformiert. Große Gefahren bestehen jedoch in ethnischen Trennlinien und Online-Populismus
südostasien: Warum ist aus Ihrer Sicht die politische Landschaft Malaysias einzigartig?
Tricia Yeoh ist Geschäftsführerin von IDEAS (Institute for Democracy and Economic Affairs), einem unabhängigen Think Tank für öffentliche Politik in Malaysia. Sie promovierte an der School of Politics, History and International Relations der University of Nottingham Malaysia Campus und untersuchte die Beziehungen zwischen Bund und Ländern sowie die Beständigkeit der subnationalen Opposition in autoritären Regimen mit dominanten Parteien. Sie war Forschungsbeauftragte des Menteri Besar von Selangor in der Regierung des Bundesstaates Selangor und zuvor Direktorin des ASLI Centre for Public Policy Studies. Sie ist Trägerin der vom Sultan von Selangor (Pingat Jasa Kebaktian, PJK) verliehenen Meritorious Service Medal und des Monash University Malaysia Distinguished Alumni Award 2017.
Tricia Yeoh: Obwohl Malaysia den Namen Föderation trägt, gibt es, anders als in Deutschland oder Indien, schon seit Beginn der Unabhängigkeit starke Zentralisierungstendenzen. In der Bundesverfassung sind die Zuständigkeiten der Bundesregierung und der Landesregierungen festgelegt. In der Praxis jedoch übernimmt die Bundesregierung den Löwenanteil der wichtigen politischen Angelegenheiten wie Wirtschaft, Handel, Bildung, Gesundheitswesen und Verteidigung. Die Landesregierungen sind nur für einige wichtige Bereiche wie Land, Kommunalverwaltung, natürliche Ressourcen und religiöse Angelegenheiten zuständig sind. Es gibt neun Staaten mit Herrschern, die auch als Sultane bezeichnet werden. Da der Klimawandel in den letzten Jahren zu einem wichtigen Thema geworden ist, ist die Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen Bund und Ländern und die politischen Zuständigkeiten zu überprüfen, von größerem Interesse. Insbesondere die Frage, ob den Staaten mehr Autonomie eingeräumt werden sollte oder nicht.
Die komplexe politische Landschaft verändert sich rapide: In der Vergangenheit gab es mit der Nationalen Front (Barisan Nasional) eine einzige dominante Partei, die bis zum Jahr 2018 auf Bundesebene und in den meisten Bundesstaaten regierte. Heute ist das nicht mehr der Fall. Zum einen ist die dominierende Partei UMNO (die wichtigste Partei innerhalb der Nationalen Front) zersplittert, und verschiedene politische Parteien bilden auf Bundes- und Landesebene unterschiedliche Koalitionen, was vor 2018 völlig neu war. Ein weiterer Faktor ist die Entkopplung der Landtagswahlen von den Bundestagswahlen. In der Vergangenheit fanden sie alle gleichzeitig statt, mit Ausnahme von Sarawak. Aber heute finden sie alle zu unterschiedlichen Zeiten statt, was die Menschen verwirrt, die an die Zentralisierung gewöhnt sind.
Was haben die politischen Veränderungen seit 2018 bewirkt?
Wenn man sich die politische Entwicklung Malaysias in den letzten zehn bis 15 Jahren anschaut, gibt es viel mehr Interesse und Bewusstsein für Politik und das politische System. Zum Teil hat dazu beigetragen, dass es viel mehr junge Politiker gibt, so dass sie sich stärker vertreten fühlen. Das Symbol der alten Politik waren Männer mittleren Alters. Ich denke, das hat sich geändert. Wir haben heute sehr junge Minister und stellvertretende Minister, von denen viele erst ab 2008 in die Politik gekommen sind.
Es gibt mehr weibliche Kandidaten, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass auch mehr von ihnen gewählt werden. Der Anteil weiblicher Abgeordneter ist immer noch relativ gering. Im Großen und Ganzen ist die allgemeine Erwerbsquote von Frauen im Vergleich zum Verhältnis von Frauen zu Männern an den Universitäten relativ niedrig. Die Gründe dafür liegen in kulturellen Faktoren und dem Mangel an ausreichenden Unterstützungssystemen für berufstätige Mütter.
2019 gab es eine wichtige Verfassungsänderung, nämlich die Absenkung des Wahlalters. Welche Auswirkungen hatte die Verfassungsänderung?
Es gab viel Interesse an dem, was wir in Malaysia „Undi-18“ nennen, oder Vote-18 auf Englisch, was bedeutet, dass diese Verfassungsänderungen das Wahlalter auf 18 Jahre absenken, während es vorher 21 Jahre betrug. Aber noch bedeutsamer als die Senkung des Wahlalters auf 18 war die automatische Wählerregistrierung (AVR). Jeder, der vorher zu faul war, sich zu registrieren, war nun plötzlich automatisch Wähler*in. Ich kenne Leute in ihren 30ern oder 40ern, die sagten, dass sie zum ersten Mal wählen gehen, weil sie automatisch in das System aufgenommen wurden. Bei den Wahlen 2022 sorgten diese beiden Änderungen für sehr viele neue Wähler*innen, deren Wahlverhalten noch nicht bekannt war. Man ging davon aus, dass es viele junge Menschen gibt, und deshalb gaben sich die politischen Parteien, insbesondere die derzeitige Opposition, wirklich große Mühe, die jungen Menschen zu erreichen. Dies geschah unter anderem durch neue Marketingstrategien wie die Nutzung der Plattform TikTok, in die angeblich viel Geld geflossen ist. Es gab viele neue Wähler*innen, die nur wenig politisches Hintergrundwissen hatten. Die Zivilgesellschaft muss Aufklärungsarbeit leisten und über Politik und Demokratie sprechen, um das politische Verständnis in unserer Gesellschaft zu verbessern.
Hat es viele Desinformationskampagnen gegeben?
Das Problem mit diesen TikToks ist, dass sie so kurz sind, dass sie eher der Unterhaltung als der Bildung dienen. Einige der beliebtesten Videos hatten keinen großen Informationswert, sondern zeigten junge, hübsche Mädchen in knapper Kleidung, die dann das Logo einer der politischen Parteien trugen. Dabei ging es nicht darum, welche Partei die beste Wirtschaftspolitik für die Zukunft hat oder was sie für die Jugend zu tun gedenkt. Nein, nichts von einer politikorientierten Debatte. Und das finde ich schade, denn hier hat man die Möglichkeit, junge Menschen wirklich zu erreichen und Wähler*innenaufklärung über wichtige aktuelle Themen zu betreiben.
Zweitens gab es Parteien, die ihren Wahlkampf sehr stark auf der Grundlage von Herkunfts- und Religionsfragen führten. Es wurde eine sehr verletzende Sprache verwendet, auch von den politischen Führern selbst. Diese Trennlinien zwischen Race und Religion wurden schon immer benutzt, aber bei dieser Wahl konnte man sehen, dass diese Botschaften sehr ungefiltert waren.
Im Zusammenhang mit dem ehemaligen Finanzminister der Demokratischen Aktionspartei (DAP), Lim Guan Eng, wurden Nachrichten über Dinge verbreitet, die er getan hat und die angeblich der malaiischen Gemeinschaft schaden. Ein jüngeres Beispiel war eine Vertreterin der islamischen Partei (PAS), die behauptete, Lim Guan Eng sei mit einem der früheren kommunistischen Führer verwandt. Kommunismus gilt hier als ein großes No Go. Und das war offensichtlich unwahr.
Gab es eine Gegenbewegung, die diese Aussagen als Fake News entlarvte?
Ich glaube, die meisten Aktivitäten fanden auf Twitter (heute X) in Form von Kommentaren und Entlarvungen statt. Aber das Problem ist, dass in Malaysia verschiedene Gemeinschaften verschiedene soziale Medien nutzen; die sehr liberalen sind auf Twitter, die konservativeren auf Facebook. Die Menschen leben wirklich in ihren Filterblasen der sozialen Medien. Ganz zu schweigen von der anderen Schwachstelle Malaysias, die in der Sprache liegt, denn obwohl Malaiisch unsere Landessprache ist, findet der Diskurs auch auf Chinesisch statt, dem die Malaien nicht folgen können. Und es gibt auch einen Diskurs in den englischsprachigen Medien.
Wie haben die Korruptionsskandale und Covid-19 die malaysische Politik und die Wähler*innen beeinflusst?
1MDB [Korruptionsskandal, bei dem aus dem malaysischen Staatsfonds 1Malaysia Development Berhad = 1MDB systematisch und weltweit Geld veruntreut wurde, d.R.] war ein wichtiger Faktor bei den Wahlen 2018, aber nicht so sehr bei den Wahlen 2022. Ironischerweise wurde der ehemalige Premierminister Najib Razak im Hinblick auf die Wahl 2022 recht populär und wurde im politischen Wahlkampf sogar mit dem Slogan „Malu Apa, Bossku?“ eingesetzt, was übersetzt heißt: „Wofür schämst du dich, Boss?“ Er fuhr in großen Autos mit Musik und einer großen Horde von Menschen durch das Land.
1MDB wurde zu einem nationalen Thema. Die Menschen protestierten und der ehemalige Premierminister Tun Mahathir bin Mohamad beschloss, sich mit der Opposition zusammenzutun, um 2018 die Barisan National zu stürzen. Das war wirklich ein Wendepunkt in der malaysischen Geschichte. Es sollte ein demokratischer Wendepunkt für uns sein. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das heute wirklich noch so nennen können. 1MDB hat sicherlich zu einer Zersplitterung der politischen Kräfte, der Zivilgesellschaft und sogar der Opposition geführt. Jetzt befinden wir uns in einer sehr merkwürdigen Lage: Die Opposition, die den Amtsinhaber gestürzt hat, koaliert jetzt mit eben jener Partei, die sie gestürzt hat.
Im Gegenzug wurde Covid von Regierungen in der ganzen Welt, auch in Malaysia, genutzt, um sich in wirtschaftlicher Hinsicht protektionistischer zu verhalten und Gesetze zu erlassen, die der Zentralregierung eine noch stärkere Rolle ermöglichen. Was die demokratischen Strukturen anbelangt, so nutzte die damalige Regierung die Pandemie, um die Aussetzung des Parlaments zu rechtfertigen, was der König öffentlich kritisierte. Normalerweise versucht unsere Monarchie, sich nicht in die Politik einzumischen, aber Covid führte dazu, dass wir eine sehr aktive Monarchie erlebten. Außerdem wurden die Menschen sehr fremdenfeindlich und lehnten die Anwesenheit von Wanderarbeiter*innen und Flüchtlingen in Malaysia ab, insbesondere die der Rohingya-Flüchtlinge aus Myanmar.
Wie könnte sich dies in den nächsten Jahren entwickeln?
Ich glaube nicht, dass Malaysia wirklich zu einer Autokratie zurückkehren kann, angesichts des Engagements und des Bewusstseins, das die Bevölkerung heute in Bezug auf die Politik hat, und angesichts der Forderungen und Erwartungen, die sie an die Regierung stellt. Was wir jedoch beobachten, ist ein wachsender Konservatismus und ein gesellschaftlicher Rechtsruck. Ein reformorientierter Premierminister wie Anwar Ibrahim muss nun konservativere Entscheidungen treffen, wie etwa das Verbot der LGBT-Uhren von Swatch. Die Regierung hat auch die Entscheidung getroffen, ein ganzes Konzert abzusagen, weil ein Sänger der Band The 1975 sich abfällig über die [restriktiven, d. R.] LGBT-Gesetze geäußert hat. Diese Dinge geschehen, weil wir in Malaysia eine sehr konservative Gesellschaft haben.
Das mag recht pessimistisch klingen, aber die Hoffnung ist, dass die Jugend in der Lage sein wird, die Dinge selbst zu sehen und sich selbst zu bilden, ohne von politischen Führern abhängig zu sein, die ihre Weltanschauung prägen. Gegenwärtig ist der Bürgersinn im Lande jedoch noch nicht sehr ausgereift.
Interview und Übersetzung aus dem Englischen von: Simon Kaack
Dieser Text erscheint unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.