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Die Umdeutung kolonialer Fotografie
Südostasien/Indonesien: Mithilfe digitaler Medien stellen Künstler*innen Nutzung, Wahrheitswert und Macht kolonialer Fotoarchive infrage.
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert nutzten koloniale Staaten und Unternehmen die Fotografie, um Wissen über die von ihnen besetzten Kolonien zu sammeln und den Erfolg von Infrastrukturprojekten zu dokumentieren. Ausländische Wanderfotografen und lokale Fotostudios fertigten Porträts von kolonialen Motiven an, sowohl in schlichten Abbildern als auch in Genre-Szenen. Damit befriedigten sie die touristische Nachfrage nach fotografischen Souvenirs ebenso wie die Neugierde des großstädtischen Publikums, das die Bilder in Form von Postkarten, Drucken und Buchillustrationen zu sehen bekam.
Ob in privatem oder staatlichem Besitz: Ein Großteil dieser Bilder ist heute Teil der „kolonialen Sammlungen“ in Museen, Bibliotheken, Archivzentren und Universitäten der ehemaligen Kolonialmächte. Diese wissensproduzierenden Institutionen definierten, welche Art von historischer Erinnerung bewahrt werden sollte.
Die postkoloniale Wissenschaft hat dieses Fotomaterial erneut untersucht und in einen neuen Kontext gestellt, indem sie die Perspektive der ehemaligen kolonialen Subjekte eingenommen hat – anstatt diejenige des Kolonisators, der auf die Kolonisierten schaut. Zugleich hat sie damit die Künstlichkeit und Konstruiertheit kolonialer Archivaufzeichnungen aufgedeckt.
Digitalisierung von Archiven eröffnet neue Möglichkeiten
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erweiterte die Digitalisierung die Leistungen kolonialer Archive. Dadurch wird heute einem viel größeren und geografisch weit verstreuten Publikum der Zugang zu solchen Sammlungen ermöglicht – jenseits deren physischer Grenzen. Dennoch neigt der Prozess der digitalen Standardisierung dazu, Fotografien ihres „sozialen Lebens“ zu berauben: Die Biografie und die aktive Rolle in der Geschichte solcher Bilder bleiben oft hinter den einheitlichen Klassifikationssystemen verborgen.
Die Open-Access-Veröffentlichung von Archivsammlungen erzeugt nicht nur Bedenken hinsichtlich der Erhaltung von materieller Kultur. Sie wirft auch Fragen zu Eigentum, Urheberschaft und Copyright für die Wiederveröffentlichung auf. Zeitgenössische südostasiatische Künstler wie Dow Wasiksiri (Thailand), Yee-I-Lann (Malaysia), Robert Zhao (Singapur), Kiri Dalena (Philippinen) und Agan Harahap (Indonesien) nutzen die Formbarkeit und Flexibilität digitaler Archivalien und die Vielseitigkeit digitaler Software, um koloniale Repräsentationen zu stören, zu untergraben und ihre Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.
Dieser Artikel untersucht die Art und Weise, wie der indonesische Künstler Agan Harahap Fotografien umwidmet und manipuliert, um die Verwendung, den Wahrheitswert, die Urheberschaft und das Eigentum kolonialer Archive infrage zu stellen.
Agan Harahap studierte Grafikdesign in der westjavanischen Metropole Bandung. 2008 zog er nach Jakarta, wo er als Fotograf und Illustrator für ein bekanntes Musikmagazin arbeitete. Seine Bilderserie „Superhistory“ erregte 2010 internationale Aufmerksamkeit, als sie über die sozialen Medien verbreitet wurde. Harahap adaptierte dafür ikonische Fotografien von bedeutenden Momenten der Weltgeschichte, in die er fiktive Superhelden integrierte. So lässt er etwa Spiderman an der Invasion in der Normandie teilnehmen. In einem anderen Bild beschattet Darth Vader die Staatsoberhäupter der Alliierten auf der Konferenz von Jalta 1945. Die makellosen digitalen Collagen verblüffen die Betrachtenden – jedoch nicht, um Geschichte zu karikieren.
Bei einem Workshop der niederländischen Fotografie-Plattform Noorderlicht in Yogyakarta wurde der 1980 geborene Harahap zum ersten Mal mit kolonialem Archivmaterial aus Niederländisch-Ostindien [koloniale Bezeichnung für das heutige Indonesien] konfrontiert. Ein Jahr später floss diese Begegnung in sein fiktives koloniales Fotostudio „Mardjiker“ ein.
Infrage stellen von Autorität und Typisierung historischer Fotografien
Das Wort „Mardjiker“ leitet sich vom Sanskrit-Wort Mahardika ab und bedeutet wörtlich „Befreite“. Dies war die Bezeichnung für getaufte ehemalige Sklav*innen und ihre Nachkommen in Batavia [kolonialer Name Jakartas]. Zunächst arbeiteten sie für die Portugiesen und konvertierten dann unter niederländischer Herrschaft zum Katholizismus und später zum Protestantismus. Diese Bevölkerungsgruppe nahm zwar die westliche Kultur und Religion an, aber aufgrund ihrer Hautfarbe blieb ihnen der Zugang zu einem höheren sozialen Status in der Kolonialgesellschaft verwehrt.
Harahap thematisiert diese soziale Identität des „Dazwischen“ bewusst in den gemischten Porträts von Europäer*innen und Einheimischen. Im selben subversiven Geist, mit der er die Autorität historischer Fotografien infrage stellt, hinterfragt der Künstler auch visuelle und kulturelle Gemeinplätze der kolonialen Studioporträts. Um sozial bedingte Stereotypen in der Darstellung von Europäer*innen und Einheimischen hervorzuheben, setzt er digitale Manipulationen ein.
Karikierte Darstellung der „exotischen Frau“ und des „exotischen Tieres“
Der indische Ethnologe Arjun Appadurai hat argumentiert, dass das koloniale Fotostudio für die Einheimischen ein Ort gewesen sei, an dem sie gleichermaßen mit „dokumentarischem Realismus“ und „Modernität experimentieren“ konnten. Denn die Studioporträts der Einheimischen hätten sowohl „Typen“ als auch „Merkmale“ dargestellt.
Harahap thematisiert diesen ambivalenten Status der kolonialen Studioporträts in „Sutirah: Die erste Tierbändigerin“. In diesem digital zusammengesetzten Porträt karikiert der Künstler die koloniale Darstellung der exotischen Frau und des exotischen Tieres aus den Tropen. Sutirah ist in einem weißen Kleid im westlichen Stil abgebildet, wobei ihr langes schwarzes Haar über ihre Brust fließt. Sie hält ein Krokodil wie ein Haustier in den Armen – eine Anspielung auf Europäer*innen, die sich mit ihren Haushunden ablichten ließen.
Das Porträt von Sutirah, die das gefährliche Reptil furchtlos in die Kamera hält, entspricht natürlich nicht den üblichen kolonialen Studioporträts einheimischer Frauen. Es bezieht sich vielmehr auf Mythen von Frauengestalten mit übernatürlichen Kräften, wie sie in den lokalen Folkloretraditionen Indonesiens häufig zu finden sind.
Harahap unterlegt das Porträt von Sutirah mit fiktiven und faktischen Informationen: Neben dem erfundenen Geburtsdatum seiner fiktiven Heldin nennt er ihr angebliches Talent, mit Tieren zu kommunizieren. Zudem erwähnt er ihre angebliche Zusammenarbeit mit einer realen historischen Figur – nämlich dem deutsch-holländischen Zoologen Carl Wilhelm Weber (1852-1937), der 1899 eine wissenschaftliche Expedition nach Sumatra unternahm.
Die Bildunterschrift des Sutirah-Porträts bietet so einen reichen kulturellen Kontext für die benannte Person. Das steht im krassen Gegensatz zu den generischen Bildunterschriften der sogenannten Typus-Porträts, die dazu dienten, anonyme Personen zu typisieren – zum Beispiel „javanische Frau“, „chinesischer Schmied“, „balinesische Tänzerin“ – und so eine Vermarktung der Bilder zu ermöglichen.
Postkoloniales Archiv – eine Sammlung von Verhaltensweisen online und offline
Es folgten regelmäßige Posts von Porträts aus dem Mardijker Photo Studio auf Facebook, Instagram und X [früher Twitter] unter dem Namen Sejarah X (Geschichte X). Indem Harahap sein pseudo-archivalisches Material über die sozialen Medien verbreitete, trat er mit seinem Publikum auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene in Kontakt und belebte so die Diskussion über den Kolonialismus neu. Im Oktober 2024 hatte Sejarah_X mehr als 26.000 Follower auf Instagram und 1500 auf Facebook.
Der Künstler macht sich also die Dynamik der sozialen Medien in Südostasien zunutze, um die Mechanismen kolonialer Archivierung zu entwirren. Indem er die Öffentlichkeit online zur aktiven Teilnahme ermutigt, unterbricht Harahap die Autorität und Integrität dieser Archive. Stattdessen bietet er den Nutzer*innen die Möglichkeit, das Material zu prüfen, zu verbreiten, auszutauschen, zu manipulieren und neu zu verwenden: ein aktiver Prozess des bürgerschaftlichen Engagements. Seine Arbeit legt nahe, dass das postkoloniale Archiv modular und fließend ist und nicht nur aus materiellen Objekten besteht. Vielmehr setzt es sich aus all den Verhaltensweisen zusammen, die sich um gesellschaftliche Beziehungen und den Austausch von Informationen entwickeln, online und offline.
Übersetzung aus dem Englischen von: Christina Schott
Auszüge dieses Artikels wurden ursprünglich veröffentlicht in: Moschovi, Alexandra und Supartono, Alexander (2020): „Contesting colonial (hi)stories: (Post)colonial imaginings of Southeast Asia“, Journal of Southeast Asian Studies, 51 (3), 343 – 371.
Dieser Text erscheint unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.