Call for Paper Kunst

Die lebensgroßen Puppen des indonesischen Künstlers Samsul Arifin sind eine Satire auf die indonesische Regierung, allerdings sind seine Politiker*innen in Jutesäcke (karung goni) gekleidet. Gezeigt wurde das Kabinet Karung Goni auf der Kunstausstellung ART JOG 2014 in Yogyakarta. © Anett Keller

Thema: Zeitgenössische Kunst in Südostasien

Alle fünf Jahre findet mit der documenta die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Kassel statt. 2022 wird es bei der documenta gleich in doppelter Hinsicht ein Novum geben: Zum ersten Mal kommt die künstlerische Leitung der Ausstellung aus Südostasien. Zugleich übernimmt zum ersten Mal ein Kollektiv von Künstler*innen die Konzeption der documenta. Das indonesische Künstler*innenkollektiv ruangrupa kuratiert die documenta fifteen, die vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 stattfinden wird.

Nach Aussage von ruangrupa geht es bei der kommenden documenta um die Verknüpfung von Kunst und Leben. Lumbung – das indonesische Wort für eine von Dorfbewohner*innen gemeinschaftlich genutzte Reisscheune – symbolisiert die Vision der Kurator*innen. Dies sei nicht ein ‚Thema’, das sie speziell für die documenta gewählt hätten, so ruangrupa, sondern symbolisiere die Werte und Methoden, aus denen ihre Kunst entstehe. Zahlreiche Künstler*innenkollektive aus vielen Ländern wurden eingeladen, um gemeinsam die ‚künstlerische Reisscheune’ zu füllen.

Für manche (westliche) Beobachter*innen ist der aktuelle documenta-Gedanke zu radikal, sie haben das Gefühl, dass „ihre documenta“ gekapert wird für einen Kunstbegriff, der nicht einem westlich-(konservativem) Verständnis entspricht. Hier zeigen sich koloniale Kontinuitäten, denn es waren die europäischen Kolonialmächte und deren Künstler*innen, welche Kunst in Südostasien geprägt haben. Kunst war dort lange eng verwoben mit Kunsthandwerk und diente religiösen Zwecken und/oder als Statussymbol für feudale Machthaber. Die Kolonialisierung und die ihr entspringende wissenschaftliche Disziplin der ‚Völkerkunde’ pflegte einen herablassenden Blick auf traditionelle Kunst, der sich bis heute in einer Abwertung zum Beispiel der Kunst von indigenen Gruppen und/oder ethnischen Minderheiten fortsetzt, die bis heute vor allem in ethnologischen Museen und nicht in Kunstgalerien präsentiert wird. Zugleich übernahmen während der Kolonialzeit Künstler*innen in Südostasien westliche Techniken und westliche Künstler*innen die Techniken der Länder, die sie bereisten.

Koloniale Machtverhältnisse setzten sich auch nach der Erlangung der Unabhängigkeit fort: In indonesischen Kunstschulen beispielweise wurde seit den 1950er Jahren vor allem westliche Kunst gelehrt. Unter Postmoderne ist vor diesem Hintergrund auch eine erneute Aneignung des ‚Eigenen’ zu verstehen. Identitätssuche bedeutet daher sowohl die Rückbesinnung auf prä-koloniale Techniken und Traditionen als auch das Spiegeln aktueller sozialer Verhältnisse. Zugleich sind Künstler*innen Teil dieser Verhältnisse. Daher wollen wir auch ein Licht auf die aktuellen Entstehungsbedingungen für zeitgenössische Kunst und (kollektive) künstlerische Prozesse der Gegenwart werfen. Besonders interessiert uns dabei die Rolle von Frauen und LGBTIQ-Menschen, sei es als Kunstschaffende oder auch in dem Sinne, dass ihre Lebenssituation künstlerisch thematisiert wird.

Auch Künstler*innen müssen von etwas leben. Die Kunstförderung, insbesondere aus dem Ausland, beruht häufig auf homogenen Vorstellungen und Konzepten, anstatt auf konkrete Arbeits- und Entstehungsumstände von Werken einzugehen. Die Museums- und Sammler*innenszene fördert oft ähnliche Kunstwerke und schafft damit Anreize, den künstlerischen Gestaltungsdrang zugunsten des finanziellen Überlebens anzupassen. Wir möchten ein Augenmerk auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Künstler*innen legen, insbesondere jener, die von großen, institutionellen Förderungen ausgenommen sind.

Künstler*innen sind in ihrer Arbeit immer geprägt von ihrer Umwelt und den damit einhergehenden Zwängen. Repressive politische Regime haben ein Interesse daran, freie und kritische Kunst einzuschränken oder zu verbieten. So waren es Künstler*innen, die nach dem Militärputsch in Myanmar Anfang 2021 (neben NLD-Abgeordneten und Aktivist*innen) als erste inhaftiert wurden, um zivilen Widerstand zu brechen. Derartige Trends sind auch in anderen Ländern Südostasiens zu beobachten. Unser Anliegen ist es, zu zeigen, wie Kunst unter diesen Bedingungen entsteht und als Mittel gegen Unterdrückung genutzt wird.

Diese und weitere Fragen wollen wir in der kommenden Ausgabe beantworten:

  • Wie hat sich der Begriff von zeitgenössischer Kunst in Südostasien historisch entwickelt? Welche Aspekte waren und sind prägend für diesen Kunstbegriff (indigene Kulturen, Religion, Kolonialzeit, Post- und Neokolonialismus)?
  • Welche Bedeutung hatten und haben Künstler*innenkollektive und wie sind sie in gesamtgesellschaftlichen Kollektivstrukturen verankert?
  • Wie und in welchen Ausdrucksformen dient zeitgenössische Kunst als Mittel, um gesellschaftliche Probleme zu reflektieren und in politischem Aktivismus alternative Gesellschaftsentwürfe zu schaffen?
  • Welche Stellung nimmt zeitgenössische Kunst in südostasiatischen Gesellschaften aus Sicht der Rezipient*innen ein? Wer sind diese Rezipient*innen, in welchem Verhältnis stehen sie zu den Kunstschaffenden?
  • Was sind die Rahmenbedingungen für Kunst in Bezug auf Versammlungsfreiheit oder Meinungsfreiheit?
  • Inwieweit gibt es Tendenzen zur alleinigen Ausstellung/Förderung von ‚gefälliger Kunst’? Gibt es Formen der Selbstzensur unter Kunstschaffenden?
  • Was bedeutet die neue „Kanonisierung“, z.B. durch die Eröffnung des Singapore Art Museum oder des Museum Macan in Jakarta, für südostasiatische Kunst? Inwieweit führt der geltende Kanon zu Selbstzensur und „gefälliger Kunst“?
  • Was bedeuten ökonomische Rahmenbedingungen für Kunstschaffende? Da es kaum staatliche Förderung für zeitgenössische Kunst gibt, sind viele auf institutionelle Förderung aus dem Westen angewiesen – inwieweit beeinflusst das die Entwicklung ihrer Kunst?
  • Welche Rolle spielt private Kunstförderung, sowie Sammler*innen? Welche Motivation verfolgen Sammler*innen?
  • Inwieweit erwarten Künstler*innen aus Südostasien, dass ihrer Kunst durch das Momentum der documenta fifteen mehr Beachtung zukommt?
  • Auf welche bereits vorhandene Zusammenarbeit zwischen Künstler*innenkollektiven in Deutschland und Südostasien baut die documenta fifteen auf beziehungsweise welche neuen Vernetzungen entstehen durch die documenta?

Wir möchten diese Fragen in verschiedenen Formen aufgreifen – in Kommentaren, Hintergrundberichten, Foto-Essays, Porträts, Interviews und Rezensionen von Filmen, Büchern oder Musik zum Thema. Wir freuen uns auf eure Beiträge!

Selbstverständnis der südostasien:

südostasien versammelt Stimmen aus und über Südostasien zu aktuellen Entwicklungen in Politik, Ökonomie, Ökologie, Gesellschaft und Kultur. Zu vier Schwerpunkthemen im Jahr erscheinen Beiträge über die Region und die Länder Südostasiens sowie deren globale/internationale Beziehungen.

südostasien versteht sich als pluralistisches Forum eines herrschaftskritischen und solidarischen Dialogs, als Raum für Diskussionen zwischen Akteur*innen in Südostasien und Deutschland mit Nähe und Kenntnissen zu sozialen Bewegungen. südostasien beschäftigt sich mit Möglichkeiten transnationaler Solidaritätsarbeit angesichts ungleicher Machtverhältnisse zwischen dem globalen Norden und Süden. südostasien möchte Denkanstöße für das Handeln in Europa bzw. in Deutschland liefern.

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Call for paper – 1/2022 (deutsch)
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Deadline für Artikel (max. 10.000 Zeichen) ist der 15. Dezember 2021 (in Einzelfällen und nach Absprache mit der Redaktion ist ggf. auch eine spätere Deadline möglich). Bitte vorab ein kurzes Abstract (max. 1000 Zeichen) an die Redaktion einreichen.

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